Von Gruben und Nestern: Obdachlosigkeit als christliches Konzept
- Prof. Johanna Haberer
- 21. Sept. 2017
- 8 Min. Lesezeit

Das Statement wurde im Rahmen des 11. Berliner Forums zum Thema "Obdach und Zuflucht - Kirche gibt Raum" gehalten.
Sie haben sich heute den ganzen Tag mit der Frage von Obdach und Zuflucht befasst und vermutlich nach Strategien gesucht, wie bezahlbarer Wohnraum in den städtischen Gevierten erschaffen, erhalten und an die richtigen Adressaten vermittelt werden kann: An Wohnungslose oder Asylsuchende oder Mindestlöhner, an kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Behinderte, Alte und Demente. Also an diese soziologisch erfassten Menschengruppen, die an die Ränder der Gesellschaft geraten sind oder die Ränder schon verlassen haben und in den Zustand der dauerhaften Resignation gestürzt sind. Sie haben nach der Rolle einer Christlichen Immobilienbewirtschaftung gefragt und nach den Erwartungen von Kirche, Staat, Gesellschaft und Öffentlichkeit. Sie haben Phantasie entwickelt und best practice-Beispiele geteilt. Lassen Sie mich heute Abend hier im Angesicht der Ruine der Gedächtniskirche und am Ort des verheerenden terroristischen Anschlags, also im Angesicht der unbedingten und unabweisbaren Verletzlichkeit menschlichen Lebens, von einer ganz anderen Seite kommen. Von einer basalen theologischen Perspektive. Die theologische Perspektive ist immer die grundsätzliche Unterbrechung unserer Geschäfte: des Kaufens und Verkaufens und Handelns und Strategienentwickelns. Der theologische Blick, das heißt der Blick von Gott her auf unser Leben, Arbeiten und unsere Geschäfte, lässt uns innehalten, lässt uns unsere allzu berechenbaren Logiken der Ökonomie in Frage stellen. Zunächst Impressionen: Obdachlosigkeit ist ein Phänomen, dem kein Mensch, der sich durch unsere Städte bewegt, entkommt. Diese vielen Brüder und weniger Schwestern sind sichtbar und erkennbar. Sie bewegen sich so auffällig in den Straßen und auf den Plätzen, auf den Bahnhöfen und unter den Brücken, dass sie krasse Unterbrechung unserer optischen Normalität darstellen. Sie haben ihre eigene Mode, ihr eigenes Outfit, oft ihren eigenen Geruch. Sie haben ihre Tattoos und ihre Armbänder und Halsketten und sie haben ihre Hunde. Meist bewegen sie sich nicht, sondern sitzen an warmen Plätzen: Manche allein, manche in Gruppen. Sie haben eine eigene Kultur und diese Kultur ist ein Gegenentwurf zu unserer bürgerlichen Kultur des Kleidens und des öffentlichen Benehmens. Jeder dieser obdachlosen Menschen hat einen eigenen Weg dorthin, aber dort angekommen, beim Leben in den öffentlichen Räumen, uniformieren sie sich: Handschuhe, Schals, dicke Stiefel. Das Leben auf der Straße erfordert ein gewisses Outfit. Und dieses Outfit unterbricht unsere normalen Abläufe so sehr, dass selbst ein kleines Kind fragt: Was macht der Mann? Was ist mit ihm? Wer in die Kultur der Obdachlosigkeit wechselt oder genötigt ist zu wechseln, der hat sich möglicherweise in den Zwang versetzt einen warmen Schlafplatz zu erobern, aber sonst hat er, hat sie sich aller gesellschaftlichen Zwänge entledigt. Das Anlegen kultureller Sitten, Gewohnheiten und Zwänge schafft auch eine gewisse Freiheit. Zu Beginn meines Berufslebens als Pfarrerin verbrachte ich einen Winter in der Herzogsägmühle. Eine Einrichtung der Inneren Mission München, die ihre Wurzeln in der Arbeit mit Obdachlosen hatte: Oder sagt man Wohnungslose oder wie B. Brüder der Landstraße? Oder „Nichtsesshafte“? Egal wie man die Menschen ohne festen Wohnsitz nennt, unvergessen sind meine Erinnerungen an die Gottesdienste oder besser Andachten, die ich am Sonntagmorgen um 8 Uhr im Anschluss an das Frühstück im großen Saal des Altersheims für wohnungslose Männer halten durfte. Da saßen vielleicht zweihundert alte und ältere Männer, die dem Leben auf der Straße nicht mehr gewachsen waren, oft multimorbid, vor ihrem abgegessenen Frühstücksteller vor ihnen unzerbrechbare Tassen aus Aluminium. Ich – damals 26 – bekam ein Mikrofon und sollte über den sonntäglichen Predigttext zu diesem Auditorium sprechen. Das war meine allerbeste Predigtschule. Denn wenn ich die Herren langweilte oder sie mit meinen Ausführungen nicht einverstanden waren, begannen sie mit den Löffeln in ihren Kaffeetassen zu rühren – einer begann und die anderen folgten, sodass man im Raum kein Wort mehr verstehen konnte. Wenn ich meine Sache in ihren Augen anständig machte, wurde ich hinterher abgeküsst – ob ich wollte oder nicht. Da zählen keine Ämter und keine Hierarchien. Diese Menschen sind schutzlos – im wahrsten Sinn des Wortes und diese Schutzlosigkeit betrifft ihre ganze Person, beschreibt auch die Person, die alle Hüllen der Konvention fallen gelassen hat. Ich traf dort Handwerker und Facharbeiter und Ungelernte und Chefärzte – ehemalige. Sie alle hatten irgendwann einmal den Punkt erreicht, wo sie sich von den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft verabschiedet hatten. Und es gab unter diesen Brüdern auch einige, die mit ihrem Leben zufrieden waren, die es nicht anders gewollt hatten, die keinem anderen Leben nachtrauerten und die sich gerne erinnerten, wie sie allein und unabhängig und frei durch die Lande gezogen waren. Ich lernte: Fürsorge als Grundhaltung ist meist nicht erwünscht. Ich hörte immer wieder, wenn es Frühling wird und ich gesünder bin, dann breche ich wieder auf. Die zweite – ein paar Jahre später. München St. Lukas, die größte evangelische Kirche in München, 2700 Plätze. Der Winter 1992 ist der kälteste seit Jahren, tagelang sinken die Temperaturen auf -20 Grad. Jeden Tag erfriert ein obdachloser Mensch. Der Kirchenvorstand von St. Lukas beschließt die ungenutzten Kellerräume unter der Kirche zu öffnen und Übernachtungsplätze zu schaffen für die, die keinen Platz in den anderen Unterkünften bekommen. Es gründet sich ein Arbeitskreis Armut, der seither im Winter Schlafplätze – heute speziell für Frauen – öffnet. Auch hier wurden die Grenzen der Konvention deutlich oder besser die Grenzen der kirchlichen Wahrnehmung. Denn in der Kirche war es wärmer als draußen, also kamen auch die Bewohner der Schlafräume im Keller in größeren Gruppen in die sonntäglichen Gottesdienste. Und plötzlich änderte sich das „Wir“ im Gottesdienst. Es wurde allzu deutlich, dass wenn „wir“ bürgerlichen Christen am Altar für die Menschen beten, die kein Obdach haben, dann ist das eine exklusive Rede. „Wir“ nämlich sind es nicht: obdachlos sind die „Anderen“. Aber wenn diese „Anderen“ plötzlich mit im Raum sind und mitbeten, ändert sich die Sprache der Gemeinde, der Pfarrer und die Sprache der Gebete und der Liturgie. Die Unterbrechung der bürgerlichen Sprachmuster im Gottesdienst: das geschah da. Wie betet man für die Obdachlosen, wenn sie im gleichen Raum sitzen und aufmerken, was da gesprochen wird. Ich habe durch diese Begegnungen verstanden, wer einmal derart nackt und schutzlos war und deshalb auch so unwahrscheinlich frei von allem, was man im Leben kaschieren und verbergen und überspielen und verteidigen muss, der geht keine Kompromisse mehr ein. Vielleicht ist es diese Unabhängigkeit und Freiheit, die den Menschen ohne ein Dach über dem Kopf zum biblischen Role-Model macht. Denn die Existenz auf dem Wege ist tief in unserer christlichen Denktradition verwurzelt: Das Bild des Nomaden, der nie sesshaft wird und sich Nacht für Nacht einen neuen Platz sucht, zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel: Es ist das Bild des Menschen, der heimatlos ist bis er Heimat findet in Gott. So beginnt das Glaubensbekenntnis des Volkes Israel – das erste persönliche und kollektive Glaubensbekenntnis, das wir kennen – mit dem Satz: Ein umherziehender Aramäer war mein Vater, er zog nach Ägypten und wohnte dort als Fremdling.... Das Bild des Menschen, der unterwegs ist und – eine im realen wie im übertragenen Sinne – nomadische Existenz führt, bleibt auch im neuen Testament ein Leitbild für den Einzelnen und die christliche Gemeinschaft: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die künftige suchen wir“ lesen wir im Hebräerbrief und den Aposteln wird auf ihren Weg mitgegeben: 3 Gehet hin; siehe, ich sende euch als die Lämmer mitten unter die Wölfe. 4 Tragt keinen Beutel noch Tasche noch Schuhe und grüßet niemand auf der Straße. Wo ihr in ein Haus kommt, da sprecht zuerst: Friede sei in diesem Hause! Matth.10 Oder bei Lukas heißt es: Besorgt euch kein Reisegeld, weder Gold noch Silberstücke oder Kupfermünzen! Besorgt euch auch keine Vorratstasche, kein zweites Hemd, keine Sandalen und keinen Wanderstab. Denn wer arbeitet, hat Anspruch auf seinen Lebensunterhalt. Jesus sagt von sich selbst: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Das passt natürlich für eine Tagung der Evangelischen Immobilienunternehmer wie die Faust aufs Auge. Denn Sie sind es, die in Zeiten steigender Immobilienpreise und dem absoluten Mangel an würdigem bezahlbaren Wohnraum, Raum schaffen, damit Frauen einen geschützten Platz für ihre Kinder haben, damit Männer Zeit haben aus der Schuldenfalle zu kommen und Süchtige, eine Chance bekommen dem Milieu zu entkommen, damit Familien, die aus Syrien oder Afghanistan geflohen sind, eine Chance auf Zukunft haben. Sie tun das ebenfalls im Auftrag der christlichen Werte der Barmherzigkeit, wenn es in der Geschichte vom Weltgericht heißt: ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen. Hier sind die beiden Stichworte ihrer Tagung: Obdach und Zuflucht. Sie sind es, die eine gesellschaftliche und politische Stimme erheben, damit die so sichtbaren, aber stimmlosen Menschen auf der Straße Fürsprecher bekommen, die sich um ihre Existenzvorsorge kümmern. Sie gehören zum Chor der politischen Kräfte, die der unaufhaltsamen Spirale der Spekulation einen Riegel vorschieben, die Menschen um ihr Zuhause bringt. Sie gehören zu den Menschen, die Witz und Phantasie entwickeln, wenn Sie sich zum Beispiel fahrbare Minihäuschen ausdenken, wo Menschen, wie Schnecken in ihrem mobilen Haus Wohnung nehmen können. Dennoch erinnert uns das christliche Leitbild des schutzlosen und unabhängigen, ja freien Wanderers, dass die Unabhängigkeit von materieller Sicherung eine unvermutete, für uns heute unbekannte, Freiheit bedeuten kann. Wobei diese Christliche Existenz, als frei gewählt gelten darf. Ehrlich gesagt, das ist uns zutiefst fremd. Einer, der sich im Namen Christi frei macht und sich auf den Standpunkt stellt, ich bringe die Botschaft von Christus dem Auferstandenen und das ist ein Dach über dem Kopf wert, bis ich weiterziehe, der hat eine eigene Wahl getroffen. Aber gibt es die überhaupt in unserer Gesellschaft? Ist dies noch eine christliche Kategorie? Oder haben wir uns als Christen und Kirchen darin eingerichtet, ein Teil der strukturellen Daseinsvorsorge in dieser Gesellschaft zu sein und im Rahmen der Spielregeln dieser Gesellschaft mitzuspielen? Ja das stimmt, eine Christenheit, die selbst kein Dach über dem Kopf hat, kann auch anderen keines schaffen, eine Kirche, die nicht gut wirtschaftet, kann für andere nichts erwirtschaften, ein kirchliches Unternehmen, das für andere sorgen will, muss für sich selbst gesorgt haben. Was aber ist mit den Menschen, die keine Wahl haben oder gehabt haben, die sich ein geregeltes Leben mit Arbeit und Dach über dem Kopf wünschen und für die unsere Gesellschaft keinen Platz hat? Wir werden in dieser Spannung leben müssen. Wir werden verstehen, dass uns die Menschen ohne Obdach und ohne Heimat, Menschen in Armut und auf der Flucht harte Hinweise sind auf unsere verletzliche menschliche Existenz, aber auch Hinweis darauf, welch eine Unabhängigkeit entsteht, wenn ich mich aus dem gesetzten Räumen einer Gesellschaft entferne. Sie zeigen uns, dadurch, dass es sie gibt, dass wir als Kirchen und kirchliche Unternehmen Freiheit verloren haben, weil wir in allen möglichen gesellschaftlichen Kompromissen mitspielen. Aber womöglich kann uns diese Erinnerung an die jesuanischen Freiheitsvorstellungen auch befähigen in unserer Fürsprache radikaler zu werden. Wir müssen die Raumfrage stellen: Wieviel Platz ist ein Mensch wert und warum haben die einen 130 qm und die anderen zwei? Warum haben die einen Villen und die anderen kein Dach über dem Kopf. Die Frage nach der Rolle der Obdachlosigkeit und unseren Möglichkeiten anderen Zuflucht zu bieten, radikalisiert – hoffentlich uns Christen – in jedem Fall diese Gesellschaft. Denn die Frage, wer hat Raum für wen und wieviel Raum könne wir schaffen für welche Menschen, hat letztlich das Wahldesaster des vergangenen Wochenendes evoziert. Da gibt es die einen, die die Raumaufteilung wieder an der völkischen Herkunft festmachen wollen: Raum ist nur für Mitglieder des Deutschen Volkes und Menschen mit angestammtem deutschen Pass. Und dann gibt es die anderen, die viel Geld verdienen damit, dass sie ihre Abrisshäuser zu Höchstpreisen an die Kommune vermieten, damit die sie an Flüchtlingsfamilien weiterleiten und dann gibt es die – und das sind vor allem die kirchlichen Träger, die uneigennützig Raum vergeben und verwalten und eröffnen – ohne Ansehen der Person. Das gibt Ihnen und uns das Recht oder besser ruft in die Pflicht eindeutiger zu werden in der Ansprache gegenüber einer Spekulantengesellschaft, die Menschen um ihre Wohnungen bringt, um selbst noch reicher zu werden. Die angeht dagegen, dass sich unsere Städte in A-Klasse-Bewohner und Z-Klasse-Bewohner teilen, dass der Wohnort mein Einkommen offenbart und dass die Algorithmen, die meine Schufa-Daten speichern, darüber entscheiden, wo ich eine Wohnung bekomme. Radikal angeht gegen eine Politik, die zulässt, dass Familien die Hälfte ihres Einkommens für Wohnraum ausgeben müssen und die zuschaut, dass Polizisten den Wohnraum in der Stadt, die sie beschützen, nicht mehr zahlen können. Die Raumfrage in all ihren Spielarten kann verstanden werden als Zukunftsfrage der Gesellschaft und der Maßstab ihrer sozialen Zukunftsfähigkeit. Christliche Unternehmen sind deshalb aufgerufen nicht nur phantasievolle Wohnmodelle zu kreieren, sondern auch in scharfe Fürsprache zu treten, für die, die Zuflucht wollen und brauchen und in scharfem Widerstand zu treten, zu denen, die die Räume enger machen wollen in diesem Land; die Lebensräume und die Denkräume… Und das alles im Geist dessen der letztlich unabhängig ist, der alles abgelegt hat, weil er nicht für sich selbst einsteht, sondern für andere.