Kirche findet Stadt – Starke Partner im Quartier
- Dr. Petra Potz, Stadtplanerin, location³
- 28. Sept. 2017
- 6 Min. Lesezeit

„Die Kirchen besitzen ein großes Vor-Ort-Wissen über die Chancen und Probleme der einzelnen Stadtviertel. Und dennoch haben wir die Kirchen in der Vergangenheit zu wenig als Akteure der Stadtentwicklung angesehen – und sie selber haben sich auch nicht immer als solche empfunden. Gerade in Zeiten, in denen Ressourcen bei allen abnehmen, kommt es darauf an, die Kräfte zu bündeln. Und wo macht das mehr Sinn als im Stadtteil, im Quartier. Diese Art der Zusammenarbeit vieler Akteure ist ja gerade das Wesen von Stadtentwicklungspolitik, um die es uns immer geht.“ (Hendricks 2017: 4)
Das gegenseitige Verständnis, das Bundesbauministerin Barbara Hendricks einfordert, hat sich unter dem Begriff Kirche findet Stadt in den letzten Jahren etabliert. Es wurde eine bundesweite ökumenische Plattform aufgebaut, die seit 2011 als Pilotprojekt der Nationalen Stadtentwicklungspolitik im Bundesbauministerium gefördert wird. Mit dem Titel „Innovations- und Experimentierfelder für eine partnerschaftliche Entwicklung lebenswerter Quartiere“ erarbeiten Deutscher Caritasverband und Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband gemeinsam mit dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und dem Kirchenamt der EKD gute Praxis an 18 Pionierstandorten sowie Thesen und Empfehlungen für das Zusammenleben im Quartier (vgl. Vorhoff/Beneke 2017, Potz 2016). 1. Kommunale Handlungsfelder werden immer vielschichtiger Ein Ausgangspunkt der Überlegungen ist die zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Herausforderungen. Kommunen stehen den Fragestellungen der Daseinsvorsorge mit begrenzten Ressourcen und entsprechender Gestaltungsfähigkeit gegenüber. Neben demografischen Herausforderungen und dem Aufrechterhalten von Versorgungsstrukturen treffen Handlungsfelder wie Wohnen und Arbeiten, Bildung und Kultur, Engagement und Teilhabe, Klima und Umwelt, Mobilität und Verkehr in ihren Wechselwirkungen alltäglich im Quartier, in der Nachbarschaft zusammen und führen in ihrer Nutzungsvielfalt zu komplexen Abwägungserfordernissen. Mit dem Anspruch einer partizipativen Planung stößt man sehr schnell an die Grenzen der unterschiedlichen Artikulationsfähigkeit von Einzelinteressen. Einige Bewohnergruppen haben starke Stimmen, um ihre individuellen Lebensstile mit umfassenden Bedarfen an Wohnangeboten, Mobilität, Infrastruktur, Bildungsausstattung etc. einzufordern. Die Interessen benachteiligter Gruppen, die sich z. B. durch Lebenslagen, Generationen, Herkünfte unterscheiden, sind in diesen Partizipationsprozessen eher schwach vertreten und haben auf dem regulären Wohnungsmarkt keine Chance – keine guten Rahmenbedingungen für den Zusammenhalt im Quartier. Aufgrund mangelnder materieller und sozialer Ressourcen sind diese Zielgruppen nur eingeschränkt mobil und müssen ihre gesellschaftliche Teilhabe in ihrem Quartier umsetzen. Sie sind auf integrationsfähige Quartiere angewiesen, in denen günstiger Wohnraum und eine soziale Infrastruktur mit Bildungseinrichtungen, Gemeinschafts- und Begegnungsstätten als förderliches Umfeld für stabile Nachbarschaften zur Verfügung stehen. 2. Starke Partner im Quartier Die Erkenntnis wächst: Einzelne Akteure können diese Aufgaben nicht allein bewältigen. Ein Nachbarschaftsgefüge muss gemeinsam geknüpft werden. Es gibt einen steigenden Bedarf an Synergien und verteilten Zuständigkeiten statt parallel verlaufender Doppelstrukturen in verschiedenen Handlungsfeldern und Ressorts. Orte der Begegnung und Integration für sozialen Zusammenhalt und Teilhabe sind zu schaffen, soziale Infrastrukturen zielgruppenübergreifend zu öffnen und inklusiv weiterzuentwickeln. Neue Partnerschaften bedeuten Aufgabenteilung und ein neues Rollenverständnis. Wie definieren sich die Spielregeln einer partnerschaftlichen Entwicklung? Wer ergreift die Initiative? Wer hat die Federführung? Welche Formen von Beteiligung kommen zum Einsatz und sind adäquat? Kommunale Planungshoheit und Verlässlichkeit ist wichtig, z. B. die Verfügbarkeit von Grundstücken und Liegenschaften und die Schaffung von Bau- und Planungsrecht. Daneben werden neue Qualitäten verlangt. Zunehmend müssen Kummunen ermöglichen, koordinieren, bündeln, steuern. Denn die Kommune ist für die gesamtstädtische Entwicklungsstrategie und deren Umsetzung in Kooperation mit weiteren Partnern verantwortlich. 3. Entwicklungspartnerschaften für Koproduktion von Gemeinwohl Für eine soziale Stadt- und Quartiersentwicklung, wie sie Kirche findet Stadt versteht, sind Allianzen notwendig, bei denen die Akteure gewohnte Pfade verlassen und sich auf verschiedene Handlungslogiken einlassen. Diese Kommunikation braucht manchmal den Einsatz einer „Simultanübersetzung“, zwischen kommunalen Dezernaten und weiteren Akteuren. Neben den Kommunen mit ihren Ressorts und den Bewohner/innen als wichtigsten Beteiligten gilt es folgende Akteure verstärkt miteinander zu verknüpfen: - kirchliche Gemeinden und Initiativen, kirchliche Wohlfahrtsverbände und Träger, - weitere Religionsgemeinschaften, - soziale Dienste und Infrastruktureinrichtungen, - die sozialwirtschaftliche Wohnungswirtschaft, d. h. kommunale, kirchliche, genossenschaftliche, gemeinwohlorientierte Wohnungsunternehmen, - Schulen und Bildungsträger, Kultur- und Sporteinrichtungen, - Gewerbetreibende, lokale und gemeinwohlorientierte Ökonomie, - Jobcenter, - Bürger- und Nachbarschaftsvereine, Genossenschaften und (Bürger-) Stiftungen, - offene Treffs, Familienbildungsstätten, Mehrgenerationenhäuser, Gemeindezentren. Die Kompetenzfelder mit kirchlich-verbandlicher Beteiligung sind für Fragen des sozialen Zusammenhalts und der Förderung selbstbestimmter Teilhabe essentiell: - Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung, - Stabilisierung von (benachteiligten) Bevölkerungsgruppen im Quartier, - Bedarfe der Menschen in ihrem Umfeld im Mittelpunkt, - Verbesserung von Wohnsituation und Wohnumfeld sowie Bildungsförderung, - Interkulturelle und interreligiöse Begegnung, - Zuwanderung und Integration, - Demografische Entwicklung, generationenübergreifende Modelle, - Gesundheit, Pflege und Inklusion, Dezentralisierung von Komplexeinrichtungen, - Daseinsvorsorge in der Stadt, in der Region und im ländlichen Raum. 4. Quartiersentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe Eine integrierte soziale Stadtentwicklung in den Quartieren braucht „passgenaue“ längerfristige Organisationsformen und Umsetzungsstrategien. Anknüpfungspunkte und Chancen für Kooperation werden auf allen staatlichen Handlungsebenen (Bund-Länder-Kommunen) zunehmend erprobt.
Das Bundesbauministerium erprobt in der Ressortübergreifenden Strategie „Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“ im Rahmen des Bund-Länder-Städtebauförderprogramms Soziale Stadt (BMUB 2016) eine Abstimmung der Verantwortlichkeiten für das Ziel „Soziale Integration“. Aktivitäten und Programmatik der Nachbarressorts werden mit dem „Leitprogramm Soziale Stadt“ auf Synergien und Kopplungspotenziale überprüft. Das Sozial- und Integrationsministerium Baden-Württemberg hat mit dem Ideenwettbewerb und der Landesstrategie „Quartier 2020: Gemeinsam. Gestalten.“ Konzepte alters- und generationengerechter Quartiersentwicklung mit allen relevanten Akteuren in den Mittelpunkt gerückt. Darin wird die Kommune als „Motor im Sozialraum“ bezeichnet. Explizit werden Kooperationen mit relevanten Akteuren im Quartier erwünscht: „zum Beispiel mit bürgerschaftlichen Initiativen, Trägern der Freien Wohlfahrtspflege, Sozialunternehmen, Kirchen, Ärzten, Gesundheitsdiensten, Gewerbe, ÖPNV, etc.“. Es geht um den Aufbau von Schulungs- und Qualifizierungsangeboten im Bereich Quartierskoordination, somit um Methoden und Instrumente für Beteiligung, Mitbestimmung, Aktivierung verschiedener Gruppen und Akteure. In der Bundesstadt Bonn wird auf Initiative der kommunalen Stadtplanung derzeit ein systematisches Quartiersmanagement aufgebaut. Dabei geht es um den sozialen Zusammenhalt und das Zusammenwirken verschiedener Kräfte vor Ort in der Stadtgesellschaft, auch und vor allem in Stadtteilen ohne Förderkulisse und ohne einen auf den ersten Blick ersichtlichen Bedarf. Vernetzungsarbeit mit den professionellen Kräften und den Engagierten wird hier zur Weiterentwicklung der Nachbarschafts- und Quartiersarbeit in Bonn mit einer Präventionsstrategie „Auf gute Nachbarschaft! Vielfalt professionalisieren“.
Parallele Entwicklungen finden auch in den kirchlich-verbandlichen Systemen statt. Orts- und raumbezogene Ansätze sozialen Handelns werden in den Wohlfahrtsverbänden strategisch weiterentwickelt: die Gemeinwesendiakonie, das Schwerpunktthema „Wir sind Nachbarn. Alle“ bei der Diakonie und die Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit stehen für diese perspektivischen Überlegungen (DCV 2017, 2013; Diakonie 2007).
Bei den Trägern im Sozial-, Pflege-, Gesundheitsbereich geht es um die Weiterentwicklung der fachlichen Spezialisierung gemäß der Sozialgesetzgebung gegenüber zunehmend komplexen Problemlagen. Das „Netzwerk: Soziales neu gestalten“ (SONG), ein Verbund großer sozialwirtschaftlicher Unternehmen, widmet sich der Zukunft von Pflege, Versorgung und Teilhabe mit Sozialraum- und Quartierskonzepten. Dies ist ein Lernprozess vom Denken in „Versorgungsketten“ hin zu präventiven Strukturen und zu selbstbestimmter Teilhabe („Der Fall im Feld“). Dabei wird das Quartier als soziales wie auch räumliches Wohnumfeld mit unterschiedlichen Bezügen gesehen.
Exemplarisch für die Entwicklung vor Ort stehen die folgenden Pionierstandorte: In Bochum-Westend entstand mit dem Umbau der evangelischen Friedenskirche zum interreligiösen Stadtteilzentrum „Q1 – Haus für Kultur, Religion und Soziales im Westend“, das 2015 eröffnet wurde, ein Ort, an dem Christen, Muslime und andere Religionen unter einem Dach im gegenseitigen Respekt zur interkulturellen Öffnung und Integration beitragen. Für die Angebote, darunter Sprach-, Bildungs- und Begegnungskurse für Geflüchtete und Neuzuwanderer, wurde eine innovative Trägerpartnerschaft auf Augenhöhe zwischen Kirchengemeinde und dem örtlichen Bildungsträger eingegangen, der Stadtteil erfuhr durch das Q1 eine städtebauliche Aufwertung, die soziale und integrative Infrastruktur wurde deutlich verbessert. Eine ähnlich innovative Entwicklungspartnerschaft gibt es für das Intergenerative Zentrum (IGZ) in Dülmen. Dort entsteht ein zukunftsfähiger Ort der Gemeinschaft und Begegnung, der generationenübergreifend, auch über Familienstrukturen hinaus, Fortbildungen für intergenerative Angebote entwickelt. Eine neue Partnerschaft zwischen Kirche, Kommune und Bürgerschaft und die zentrale Lage als Verbindung zwischen Rathaus und Kirche haben eine Signalwirkung. Entwickelt wurde das Projekt über die NRW-Strukturförderung REGIONALE 2016, umgesetzt wird das IGZ über Städtebaufördermittel (vgl. www.kirche-findet-stadt.de). 5. Erkenntnisse Kommunen müssen und können umdenken. Gutes Zusammenleben für alle geht nur gemeinsam. Fachstrukturen in den Verwaltungen folgen meist sektoralen Logiken. Barrierefreiheit fängt in den Köpfen an: Es braucht einen regelmäßigen ressortübergreifenden Austausch und Dialog mit anderen Akteuren zu Querschnittsthemen und präventiver Quartiersarbeit und ihren Wirkungen – auf Umsetzungsebene und bei den Entscheidungsträgern.
Besondere Rolle wahrnehmen. Kirchlich-verbandliche Akteure sind zugleich Gegenüber als zivilgesellschaftliche Akteure im Quartier (freiwilliges Engagement) und auch Verhandlungspartner der Kommunen. Dieser gestaltenden Rolle und ihrer Kompetenz im kommunalen Gefüge müssen sie sich oft noch stärker bewusst werden.
Erfahrungsräume für Kirche und Verband zusammen mit kirchlichen Wohnungsunternehmen vor Ort schaffen. Werte und Ziele von Kirchengemeinden, ihrer Wohlfahrtsverbände und Träger sowie der kirchlichen Wohnungsbauunternehmen haben große Schnittmengen. Inklusion ist auch „Wohnungsbau, der Vielfalt zulässt“, nicht nur sozialer Wohnungsbau oder der „Einrichtungsbetrieb“. Die Zusammenarbeit lässt sich dabei nicht nur funktional (Mieter, Zielgruppe etc.) sehen, sondern viel strategischer als Potenzial ausbauen: Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Vertrauen.
Soziale Stadtentwicklung braucht Kontinuität und Regelstrukturen. Das Quartier ist für eine soziale und gemeinwohlorientierte Entwicklung die Hauptarena. Gute Praxis als Experiment und Innovationsimpuls ist wichtig, weitere Schritte sollten jedoch folgen: Es geht darum, den sozialen Zusammenhalt als Daueraufgabe der Stadtgesellschaft zu begreifen und finanziell auszustatten. Es braucht mitstreitende „starke Partner“, um gemeinsam das Zusammenleben im Quartier zu ermöglichen.
Literatur Deutscher Caritasverband (DCV) (2017): Sozialraumorientierung in der Caritas. Erkenntnisse aus dem Projekt "Gemeinsam aktiv im Sozialraum". Referat Sozialraum, Engagement, Besondere Lebenslagen. Freiburg: DCV Deutscher Caritasverband (DCV) (2013): Solidarität im Gemeinwesen. Eckpunkte zur Sozialraumorientierung. Freiburg: DCV. Verfügbar unter: https://www.caritas.de/glossare/sozialraumorientierung Diakonisches Werk der EKD (Diakonie) (2007): Handlungsoption Gemeinwesendiakonie. Die Gemeinschaftsinitiative Soziale Stadt als Herausforderung und Chance für Kirche und Diakonie. Verfügbar unter: https://fachinformationen.diakonie-wissen.de/sites/default/files/legacy/2007-12_Texte_Handlungsoption-Gemeinwesendiakonie.pdf Hendricks, Barbara (2017): Zwischenbilanz aus Bundessicht. In: Karin Vorhoff, Doris Beneke (Hg.): Kirche findet Stadt. Zwischenbilanz. Dokumentation der Veranstaltung im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit am 22. November 2016 S. 4-5. Verfügbar unter: http://www.kirche-findet-stadt.de/pdf/downloads/kfs/Doku_Zwischenbilanz_web.pdf Potz, Petra (2016): Kirche findet Stadt In: neue caritas Jahrbuch 2017, Freiburg: DCV, S. 138-143 Vorhoff, Karin; Beneke, Doris (Hg.) (2017): Kirche findet Stadt. Zusammenleben im Quartier –Entwicklungspartnerschaften für lebenswerte Quartiere. Ein Leitfaden. Berlin (im Erscheinen)