top of page

Familien- und Sozialraumorientiertes Wohnen Wohnstätten für Kinder und Jugendliche mit geistiger Beh

  • Sabine Oster
  • 29. Sept. 2017
  • 6 Min. Lesezeit

Wohnstätten für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung bieten Kindern und Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien leben können, ein Zuhause. In der Regel befinden sich mehrere Wohngruppen für jeweils bis zu acht Bewohnerinnen und Bewohnern unter einem Dach, die die Wohnstätte bilden. Jede Wohngruppe ist von ihrer Infrastruktur dergestalt ausgestattet, dass dort auch Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, leben können.

Bei allen Bewohnerinnen und Bewohnern liegt eine geistige Behinderung vor; im Übrigen bestehen aber große Unterschiede zwischen den zu Betreuenden. So haben viele Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung zusätzliche Behinderungen, wie Körper- oder Sinnesbehinderungen. Die Kinder und Jugendlichen werden 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr betreut.

1. Wohnen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung am Beispiel der Wohnstätte „Haus Magdala“ des Evangelischen Diakonissenhauses Berlin Teltow Lehnin

Im Haus Magdala leben 24 Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung in drei Wohngruppen.

1.1. Die Wohngruppen

In jeder Wohngruppe gibt es sechs Einzelzimmer und ein Doppelzimmer. Die Einzelzimmer für Rollstuhlfahrer sind 16 qm, die für Läufer 14 qm groß. Den drei Wohngruppen stehen jeweils ein großer Gemeinschaftsraum mit integrierter Küchenzeile und Essplatz zur Verfügung. Besondere Ausstattungsmerkmale sind eine Abschaltautomatik des Herdes und verschließbare Küchenschränke und Geräte (Kühlschrank / Spülmaschine) Dies ist notwendig, da viele Bewohner und Bewohnerinnen kein Gefahrenbewusstsein haben oder aber zu massiven Verhaltensauffälligkeiten neigen.

An jedem Gemeinschaftsraum befindet sich eine Terrasse. Jede Wohngruppe verfügt über ein Pflegebad mit Hubbadewanne, Toilette und Waschbecken sowie zwei Duschen mit Toilette und Waschbecken. In jeweils einem Bad sind die Objekte höhenverstellbar, um auch kleineren Kindern die Möglichkeit zu eröffnen, das Waschbecken und die Toilette ohne Hilfsmittel (wie beispielsweise Tritt) zu erreichen. Je nach Bedarf werden in den Wohnstätten zusätzlich vandalensichere Steckdosen und Lichtschalter installiert oder Heizungs(rohr)verkleidungen eingebaut. Die breiten Flure sind mit Handläufen in unterschiedlichen Höhen und mit 50 cm breiten Schrammborden ausgestattet. Diese sind notwendig, da die Rollstühle von Kindern unterschiedlich hoch sind und nur so eine Beschädigung der Wände und Ecken dauerhaft verhindert werden kann. Weiterhin verfügt jede Wohngruppe über ein Dienstzimmer und Abstellräume.

1.2. Übergreifende Räumlichkeiten und Außenanlagen

Zur Wohnstätte gehören ein Besprechungsraum, Büros für Leitung und Sozialarbeiterin und weitere Nebenflächen. Für Schwerstmehrfachbehinderte stehen eine Nestschaukel und ein großer Sandkasten mit einem für Rollstuhlfahrer unterfahrbaren Sandspieltisch zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es ein Trampolin, einen Kletterturm und weitere Spielgeräte, die unterschiedliche Sinne ansprechen.

Zur Wohnstätte gehört weiterhin ein großer Sitzbereich mit Grillplatz. Für jedes Kind kann ein Fahrrad bzw. Dreirad zur Verfügung gestellt werden. Der große Vorplatz des Hauses Magdala bietet Übungsfläche auch für Fahranfänger.

2. Konzeptionelle Ausrichtung der Wohnstätten für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung

Wichtige Elemente für die Arbeit in den Wohnstätten sind Leitbild und Konzeption. Diese bilden die Grundlage für die pädagogische Arbeit.

2.1. Leitbild des Diakonissenhauses „Wir gehen Wege mit Menschen“

Die Wohnstätte ist Teil des EDBTL, dessen Leitsatz „Wir gehen Wege mit Menschen“ ist. Als diakonische Einrichtung sind für uns alle Menschen bedingungslos wertvoll. Die Liebe Gottes ist der Grund unserer Liebe zum Nächsten und Glaube und Handeln gehören für uns zusammen. Für unsere Wohnstätten bedeutet dies, dass unsere Kindereinrichtungen christliche Orte sind, an denen die Besonderheiten und die Würde der kleinen und jungen Menschen geachtet werden. Unsere Bemühungen sollen dem kindlichen Bedürfnis nach Geborgenheit und Zuwendung entsprechen. Das Aufwachsen der Kinder soll – unabhängig vom Grad ihrer Behinderung – durch ein Leben in der Gemeinschaft und durch Lebensfreude bestimmt sein. Dazu ist es erforderlich, dass alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein hohes Maß an Fachlichkeit mit menschlicher Wärme verbinden.

2.2. Das Zusammenleben in der Wohngruppe

Es wird eine gemischtgeschlechtliche Gruppenzusammenstellung angestrebt, durch die ein Gefüge entsteht, das Rollenidentifikation und Identität begünstigt. Bezüglich der Altersstruktur wird eine möglichst familiennahe Konstellation präferiert. Dabei wird darauf geachtet, dass nach Möglichkeit für jedes Kind ein entsprechend seiner Entwicklungsstufe adäquater Ansprech- und Spielpartner zur Verfügung steht.

Die Wohnstätte sorgt (in der Regel) für die Ausstattung der Zimmer, dabei wird auf das Alter der Kinder, individuelle Vorlieben und auf die besonderen behinderungsbedingten Bedürfnisse geachtet. Die Wohnstätte wird von einer Zentralküche versorgt. Diese liefert das Mittagessen und die Lebensmittel für Frühstück und Abendbrot. Sie berücksichtigt auch besondere Diäten und immer häufiger auftretende Lebensmittelunverträglichkeiten. Durch die Küchenzeilen in den Gemeinschaftsräumen wird die Möglichkeit der Selbstversorgung eröffnet. Jede Wohngruppe kann sich von der Zentralversorgung abmelden und sich für eine Mahlzeit oder tageweise selbst versorgen.

Die Kinder und Jugendlichen besuchen tagsüber die Kita oder die Schule. In Ferienzeiten und bei Krankheit werden die Kinder in ihren Wohngruppen betreut. Von besonderer Bedeutung sind feste Strukturen und Verlässlichkeit im Tagesablauf für die Kinder mit Behinderung. Schwerpunkte der Betreuung sind die lebenspraktische Förderung, gemeinschaftliches Leben, Förderung der Persönlichkeitsentwicklung sowie die Freizeit-, Wochenend- und Feriengestaltung. Zur Unterstützung dienen „Ämterpläne“, Wochen- und Jahrespläne. Darüber hinaus ist die Gestaltung des Kontaktes zur und die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie von großer Bedeutung.

2.3. Sozialraumorientierung

Die Wohnstätte liegt in einem normalen Wohnumfeld und ist auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Die Kinder und Jugendlichen sind im Umfeld weitgehend integriert und bekannt. Die örtliche Infrastruktur wird umfassend genutzt. Dazu gehören niedergelassene Ärzte und Therapeuten.

Die Kinder besuchen die öffentlichen Einrichtungen der Stadt wie auch die Bibliothek zum Ausleihen von Büchern oder Filmen. Sie besuchen Supermärkte, Bekleidungsgeschäfte, Restaurants der Stadt, insbesondere McDonald‘s, Kinos und sind auf Stadtfesten präsent. Weiterhin erfolgt, wenn möglich, die Integration in örtliche Vereine oder kommunale Angebote für Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus gibt es enge Kooperationen mit den Kirchengemeinden.

2.4. Die Rolle der Mitarbeitenden

Jede Wohngruppe wird von einem Mitarbeiterteam betreut, in dem überwiegend Fachkräfte (Heilerziehungspfleger) tätig sind. Sie versehen ihren Dienst im Früh- und Spätdienst und an den Wochenenden. In der Regel sind in jeder Wohngruppe mit acht Bewohnern zwei Mitarbeitende im Dienst. Lediglich in der Nacht ist nur ein Mitarbeiter im Dienst, der als Dauernachtwache für die ganze Wohnstätte zuständig ist.

Die Mitarbeitenden ermöglichen den Bewohnerinnen und Bewohnern ein kindgerechtes Aufwachsen und im Rahmen ihrer persönlichen Voraussetzungen Normalisierung und Integration. Ein besonderes Augenmerk gilt darüber hinaus der körperlichen und gesundheitlichen Entwicklung. Sie sind die Vertrauenspersonen der Bewohnerinnen und Bewohner, die ihren Bedürfnissen Rechnung tragen, sie in ihrer Individualität beachten und den Zusammenhalt zwischen den Gruppenmitgliedern herstellen, damit ein familienähnliches Zusammensein ermöglicht wird. Die Betreuerinnen und Betreuer schaffen mit der Tagesgestaltung für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen ein Wohnmilieu, das Anregung und Förderung im sozialen und lebenspraktischen Bereich Raum gibt.

2.5. Herkunftsfamilie und Elternarbeit

Die Aufnahme in der Einrichtung erfolgt meist erst, wenn die Eltern mit der Betreuung ihres behinderten Kindes dauerhaft überfordert sind und sie sich (oft schweren Herzens) dazu entschlossen haben, die Unterstützung einer Einrichtung zur Förderung der Entwicklung ihrer Kinder anzunehmen.

Die Unterbringung ist in der Regel ein lange vorher durchdachter und schwerer Schritt für die Eltern. Die Eltern sehen in der Heimunterbringung eine auf Zukunft ausgerichtete Unterbringung, die ihre Kinder auch auf das Erwachsenendasein vorbereitet, so dass eine Rückkehr in die Familie nur sehr selten angestrebt wird.

Kinder unter vier Jahren kommen meist über Veranlassung des Jugendamtes in die Einrichtung. Für diese Kinder ist perspektivisch die Unterbringung in einer Pflegefamilie vorgesehen. Der Wechsel eines behinderten Kindes in eine Pflegefamilie gelingt allerdings nur selten, da sich auch viele Pflegefamilien mit der Betreuung eines behinderten Kindes überfordert fühlen. Den Eltern werden regelmäßige Gespräche zum Austausch von Informationen und aktuellen Entwicklungen angeboten. Dabei streben wir ein Klima gegenseitigen Vertrauens an, das die Grundlage darstellt, um therapeutische und pädagogische Maßnahmen zu besprechen. Die Resonanz auf diese Angebote ist sehr unterschiedlich, und trotz intensiver Bemühungen gelingt es nicht immer, einen kontinuierlichen Kontakt zur Herkunftsfamilie herzustellen. Die Häufigkeit der Heimfahrten richtet sich nach dem Befinden des Kindes und der Situation in der Herkunftsfamilie. Einige Kinder fahren regelmäßig am Wochenende in das Elternhaus, andere nur zu Feiertagen und einige wenige haben gar keinen Kontakt mehr zur Herkunftsfamilie.

3. Unterstützte Kommunikation und leichte Sprache

Viele Menschen mit geistiger Behinderung können weder lesen noch schreiben. Auch das Sprachverständnis und die verbalen Ausdrucksmöglichkeiten sind oft stark eingeschränkt. Aus diesem Grund kommt der unterstützen Kommunikation eine große Bedeutung zu. Hierzu gehört insbesondere die Arbeit mit Symbolen, die einheitlich und wiederkehrend angewendet werden. So werden z. B. Speisepläne, Dienstpläne, Bewohnerbefragungen und Türschilder visualisiert. Komplexe Themen und Texte werden in „leichte Sprache“ übersetzt. Leichte Sprache wird mittlerweile auch von Behörden verwandt. Beispiele dafür sind Papiere zu den Bundestagswahlen (http://www.bundestagswahl-bw.de/wahlprogramme_leichte_sprache.html) und gegen Gewalt (https://www.frauen-gegen-gewalt.de/beratung-hilft.html). Neben Sätzen in einfacher Sprache kommen immer auch Bilder und Symbole zum Einsatz. Für Menschen mit geistiger Behinderung wurde eine einfache Gebärdensprache entwickelt. Diese wird in unseren Einrichtungen z. B. beim Beten des „Vater Unser“ eingesetzt.


bottom of page