Ohne meine Immobilie kann ich nicht leben
- Felix Schnellbacher, eid
- 17. Mai 2018
- 5 Min. Lesezeit

Richter sind besonders gefragt, wenn höchste Rechtsgüter aufeinander prallen. Der BGH hatte in diesem Fall eine Abwägung zwischen den Rechten auf Eigentum und effektiven Rechtsschutz und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu treffen. Da war guter Rat teuer – und er ist es bis heute.
Besprechung des Beschlusses des BGH vom 16.3.2017 – Aktenzeichen V ZB 150/16
Der Sachverhalt dieses Falles ist schnell erzählt. Eine Gläubigerin, sie soll hier Bank AG heißen, betreibt die Zwangsversteigerung in zwei Grundstücke eines Schuldners, den wir Herrn Tropf nennen wollen. Solche Fälle passieren jedes Jahr zu Tausenden in Deutschland. Sie machen keinem Beteiligten Spaß, vor allem dann nicht, wenn der Schuldner in der Immobilie wohnt, die zwangsversteigert werden soll. Wer mit einem solchen Vorgang schon einmal befasst war weiß, dass es etliche Monate dauert und einigen Papierkrieg bedeutet, bis es zu einem Zwangsversteigerungstermin über eine Immobilie kommt. In unserem Fall versucht die Bank AG seit 2007, in Tropfs Grundstücke zwangszuvollstrecken. Das Verfahren wurde anfangs schon im frühen Stadium einstweilen eingestellt: Tropf hatte damit gedroht, sich umzubringen, sollte er das Haus (das schon das Haus seiner Eltern war) verlieren.
Dies ist ein Auszug aus Heft 5/2018 der ZWE, Zeitschrift für Wohnungseigentumsrecht, in der Rubrik "BGH für Verwalter". Ein kostenloses Probeabonnement der Zeitschrift über drei Monate oder ein reguläres Abonnement erhalten Sie hier. Teilnehmende an unseren Fachgesprächen zum WEG in Fischen erhalten im Folgejahr ein ZWE-Abonnement.
Seit 2011 kommt es immer wieder zu Versteigerungsterminen, jedoch nie zu einem rechtskräftigen Zuschlag. Tropf stellt jedes Mal einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO. Nach dieser Vorschrift kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Schuldners eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen. Voraussetzung dafür ist, dass die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Tropfs Anträge haben anfangs stets Erfolg, teils nach amtsärztlicher Stellungnahme. Tropf wird aber mit zunehmender Deutlichkeit aufgefordert, seinen (psychischen) Gesundheitszustand zu stabilisieren, denn das könne kein Dauerzustand sein. Im Februar 2013 kommt es wieder zu einem Zwangsversteigerungstermin. Tropf stellt erneut einen Vollstreckungsschutzantrag, er sei wieder suizidgefährdet. Er habe nicht um psychologische oder psychiatrische Hilfe nachgesucht, weil sich sein Zustand nach der letzten vorläufigen Einstellung des Verfahrens wieder stabilisiert habe. Als Tropf mit diesem Antrag wieder durchdringt, wendet sich die Bank AG per Beschwerde an das Landgericht. Das holt ein psychiatrisches Gutachten über Tropf ein und weist die Beschwerde zurück. Tropf geht im März 2013 in ambulante Psychotherapie, die er im April 2014 beendet.
Pingpong-Spiel um Leben und Tod
Im Dezember 2014 gibt es wieder einen Versteigerungstermin, diesmal lehnt das Amtsgericht den Vollstreckungsschutzantrag ab und erteilt den Zuschlag. Dagegen wendet sich Tropf mit der sofortigen Beschwerde beim Landgericht. Das versagt den Zuschlag, das Verfahren wird bis März 2016 einstweilen eingestellt. Tropf muss sich allerdings in Psychotherapie begeben und das dem Gericht auch nachweisen, sonst könne er nicht mehr auf Vollstreckungsschutz hoffen.
Bis zum BGH …
Im Juni 2016 kommt es zu einem weiteren Zwangsversteigerungstermin, das Gericht erteilt den Zuschlag, wieder wendet sich Tropf dagegen mit einem Vollstreckungsschutzantrag. Er sei körperlich krank gewesen, danach habe er nicht sofort freie Termine für eine psychotherapeutische Behandlung bekommen. Zudem zweifle er am Behandlungserfolg. Das Amtsgericht weist Tropfs Antrag ein weiteres Mal ab.
Das Landgericht, an das sich Tropf mit seiner sofortigen Beschwerde erneut wendet, stellt fest, Tropf sei durchaus ernsthaft psychisch erkrankt und es bestehe Suizidgefahr. In seinem Fall verspreche allerdings nur eine konsequente längerfristige Psychotherapie Erfolg, keine Unterbringung, keine Medikamente, keine stationäre Behandlung. Just zu dieser langfristigen Psychotherapie sei Tropf nicht bereit, er äußere ja sogar seine Skepsis, ob sie ihm überhaupt helfen werde. Wenn er sich verweigere, könne seine Suizidgefahr nur durch die dauerhafte Einstellung des Zwangsversteigerungs-Verfahrens beseitigt werden. Die sei aber ein ebenso dauerhafter Eingriff in das Eigentumsrecht der Bank AG. In der Gesamtschau wögen die Interessen der Bank AG inzwischen stärker, so das Landgericht. Diesmal hat Tropf mit seiner sofortigen Beschwerde also keinen Erfolg. Tropf geht vor den BGH.
… und wieder zurück
In seinem Beschluss stellt der auch für das Wohnungseigentumsrecht zuständige V. Zivilsenat des BGH zunächst fest, dass bei konkreter Lebensgefahr auf Antrag Vollstreckungsschutz zu gewähren ist. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts. Im konkreten Fall sieht der BGH die Suizidgefahr schon durch die Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses gegeben, denn der würde den Eigentumsverlust von Tropf bewirken. Es müssten hier aber gewichtige Interessen gegeneinander abgewogen werden. Neben dem Recht auf Leben Tropfs und dem Recht auf Eigentum bzw. auf wirksamen Rechtsschutz der Bank AG gebe es auch noch das Interesse des Erstehers im Zwangsversteigerungsverfahren. Es müsse also sorgfältig geprüft werden, ob die Gefahr der Selbsttötung durch eine andere Maßnahme als durch die Einstellung der Zwangsversteigerung wirksam begegnet werden könne.
Zu diesen anderen Maßnahmen zählt der BGH die polizeiliche Ingewahrsamnahme sowie die zeitweise Unterbringung in einer Betreuungseinrichtung nach landesrechtlichen Vorschriften oder nach § 1906 BGB (Unterbringung eines Betreuten mit Freiheitsentziehung nach entsprechender richterlicher Anordnung). Entscheidend, so der BGH, sei aber das ‚zeitweise‘. Drohe dem Schuldner eine dauerhafte Verwahrung, also eine Freiheitsentziehung zur Ermöglichung der Zwangsvollstreckung, sei das unverhältnismäßig und das Verfahren in einem solchen Fall einstweilen einzustellen. Anders sei dies nur, wenn innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eine Chance dafür bestehe, dass die Freiheitsentziehung zu einer Stabilisierung des Suizidgefährdeten führen und durch therapeutische Maßnahmen während der Unterbringung die Grundlage für ein Leben in Freiheit ohne konkrete Suizidgefährdung gelegt werden könne.
Deshalb gibt der BGH Tropf recht: Das Landgericht habe die Möglichkeiten, die sich zum Schutz Tropfs bieten, nicht ausreichend geprüft. Der BGH zählt dazu auch die Anordnung einer vorübergehenden Unterbringung oder die Auferlegung einer stationären Behandlung. Die Vermutung des Landgerichts, eine solche zwangsweise Unterbringung würde allenfalls für deren Dauer helfen, hielt der BGH ohne dazu vorliegende ärztliche Aussagen für spekulativ. Die vorübergehende Unterbringung dürfte im vorliegenden Fall sowohl nach Landesrecht (im Fall: Nordrhein-Westfalen) als auch nach § 1906 BGB möglich sein.
Und wenn das Landgericht zur Entscheidung kommt, dass eine befristete Unterbringung keinen Erfolg verspricht, rechtlich nicht möglich ist oder von den dafür zuständigen Behörden nicht angeordnet wird? Auch in diesen Fällen reiche die bisherige Begründung nicht aus, das Verfahren nicht wenigstens (ein weiteres Mal) einstweilen einzustellen, so der BGH. Dies gelte auch dann, wenn die Aussichten auf eine Besserung von Tropfs Gesundheitszustand als gering einzuschätzen seien.
Fazit und Ausblick
Kündigt ein Schuldner im Zwangsversteigerungsverfahren an, sich für den Fall des Verlusts seines Immobilieneigentums das Leben zu nehmen, und stellt er einen entsprechenden Vollstreckungsschutzantrag, wird es für den Gläubiger schwierig und langwierig. Das gilt vor allem, wenn es dem Schuldner gelingt, von der Ernsthaftigkeit seines Entschlusses auch Amtsärzte und psychiatrische Gutachter zu überzeugen. Dann muss das Gericht zunächst alle Möglichkeiten der psychischen Gesundung des Schuldners (ggf. mehrfach) anregen oder anordnen, bevor irgendwann in der Interessensabwägung das Interesse des Gläubigers bzw. des Ersteigerers in der Zwangsversteigerung überwiegen kann. Eine Garantie dafür gibt es nicht.
In der Praxis besteht eines der größten Probleme darin, dass die Gutachter tendenziell eher geneigt sind, eine Suizidgefahr zu bestätigen. Schließlich möchte sich niemand im Nachhinein sagen lassen, er sei für den Tod eines Menschen verantwortlich, weil er dessen Ankündigung nicht für hinreichend gewichtig hielt. Das ist nachvollziehbar, für die Gläubiger aber frustrierend. Sie werden sich fragen, warum ausgerechnet sie dafür bezahlen müssen, dass die Rechtsordnung hohe ethische Standards durchsetzt. Ein Anspruch auf angemessene Entschädigung gegen die öffentliche Hand würde dieses Sonderopfer abmildern (s. dazu und für eine Reformierung des § 765a ZPO den Vortrag von Frank Zschieschack auf dem Deutschen Mietgerichtstag 2018, inzwischen veröffentlicht in WuM 2018, 267-271).